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Staatsfeind Israel SWR2 2. 10. 2020

Staatsfeind Israel – Antisemitismus in der DDR

Die DDR gilt noch heute als „antifaschistischer Staat“. Ihr Gründungsmythos versprach eine Gesellschaft, die die nationalsozialistische Herrschaft überwand, indem sie den Kapitalismus im Osten abschaffte.
Während in der DDR die Helden des kommunistischen Widerstands verehrt wurden, wollte sich kaum jemand mit den Tätern und den Taten der Judenvernichtung auseinandersetzen. Als „Sieger der Geschichte“ wähnte man sich befreit von Schuld und Verantwortung. Und mehr noch: Der Staat Israel wurde ab 1965 von der DDR-Regierung und ihren Partnern im Nahen Osten sogar gezielt bekämpft. (Text SWR)

Sendung am Fr, 2.10.2020 8:30 Uhr, SWR2 Wissen
Mit Tönen (in der Reihenfolge des Auftrittes) von Walter Ulbricht, Moshe Dayan, *Rolf W. Schloss, Thomas Ahbe, Gideon Rafael, Anja Thiele, Jeffrey Herf, Thomas Haury

Audio; dort auch das Sendemanuskript

Eine Quellen-/Literaturliste hier bald
*Rolf W. Schloss war 1967 ARD-Korrespondent in Tel Aviv

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Persönliches zum Thema

DDR-Kommunisten auf der Allenby St
Nachdenken über Spätwirkungen des Israel-Hasses in der DDR

Befehl Nr. 798 an die Juden in Tel Aviv:
Das Stadtgebiet von Tel Aviv wird mit sofortiger Wirkung formell ins Staatsgebiet der Vereinigten Arabischen Republik  eingegliedert. Alle Juden im Gebiet des Ägyptischen Gebietes Palästina benötigen ab sofort eine schriftliche Genehmigung zur Ausreise. Die frühere Allenby Straße wird in Allee des 5. Juni umbenannt.  Wirkung von heute an. General-Gouverneur Munam Abdul Husaini


Eine alternative Geschichte aus dem Sommer 1967.  So ist es nicht passiert. Die früheren Newsweek-Autoren Richard Z. Chesnoff, Edward Klein und Robert Littell beschreiben in ihrem Buch „If Israel Lost the War“ (New York, 1969) den Sommer 1967, als hätte Israel den 6-Tage-Krieg verloren. 
Hat es aber nicht.  Israel siegte im 6-Tage-Krieg.

Pikant ist an dieser alternativen Geschichte:  Die DDR, der Verbündete der Vereinigen Arabischen Republik, wird im Buch von den arabischen Eroberern auserkoren, die Umgestaltung der Landwirtschaft im ehemaligen Israel hin zu sozialistischen Produktionsgenossenschaften zu bewerkstelligen.
 
Junge deutsche Kommunisten wären dann mit Feiereifer und Bau, auf! – Liedern ans Werk gegangen. Sie hätten wieder Wohnungen von Juden, diesmal in Tel Aviv bezogen, hätten deren Hausrat unter sich aufteilt.  So wie 30 Jahre zuvor ihre Eltern und Großeltern im Deutschen Reich.

Es ist so nicht passiert. Doch niemand hätte 1967 die DDR-Aufbauhelfer von diesem Projekt abgehalten. Das „Neue Deutschland“ und die NBI, die aktuelle kamera, alle hätten berichtet.  Die junge kommunistische DDR-Aufbaugeneration hätte ihre Helden an der nahöstlichen Arbeitsfront gefeiert.  Als einen Teil der weltweiten, progressiven Bewegung, die Imperialismus und Kolonialismus trotzte. Linke im Westen, selbst einige kommunistische Juden in der DDR hätten wohl nicht dagegen protestiert.

Die Juden in Tel Aviv hingegen, wenn sie denn Glück gehabt hätten, wären wieder in alle Welt verteilt worden. Aber es ist so nicht passiert.  Sehr zum Ärger der DDR-Führung.

Dieses Bild hat ein leeres alt-Attribut; sein Dateiname ist rede-ulbricht-wenn-es-nach-uns.jpg.
Walter Ulbricht: Leipziger Rede am 15. Juni 1967
















„Wenn es nach uns … gegangen wäre…“ erklärte Walter Ulbricht am 15. Juni 1967 in einer Rede seinen begeisterten Anhängern in der Leipziger Messehalle 2, dann hätte es keinen 6-Tage-Krieg gegeben. Dabei hatten die sozialistischen Staaten gemeinsam eine zügellose Aufrüstung allein der ägyptischen Armee seit 1965 betrieben, die ihrerseits und jederzeit bereit war, die Gründung des Staates Israel mit Mord und Vertreibung rückgängig zu machen. [Armin Wagner, Walter Ulbricht und die geheime Sicherheitspolitik der SED, Berlin 2002, S, 473-505]

Dazu ist es nicht gekommen. Doch die Friedenserzählung Walter Ulbrichts in Sachen Israel war in der Welt. Also die vom Sozialismus der DDR und der Sowjetunion als vermeintliche Garanten des Friedens.  Und das wurde weiterzählt, über Jahrzehnte unverändert in der DDR. Bis heute hört man bei Linken vom „Friedensstaat DDR“ und dass die „Linke verspricht, Friedenspartei zu bleiben“ (Neues Deutschland, 2. 9. 2020).  Die in höchstem Maße militaristische DDR, Waffenexporte der DDR in Kriegsgebiete bis hin zur heutigen Unterstützung „kämpfender Kommunisten“ im Krieg Russlands in der Ukraine (Rosa Luxemburg Konferenz 2016) lassen zumindest Zweifel an dieser verlautbarten Friedenspolitik aufkommen.   

Und auch nach 1967 lebten Ulbricht und Westlinke nicht auf verschiedenen Planeten. Sie waren Zeitgenossen. Sie waren Kampfgenossen. Sie agierten gemeinsam mit ihren späteren PLO Outlets in Ost und West.  
Ein Beispiel: Die Publikationen Palästina Dokumentation Nr. 3.: Zionismus und Rassismus (Herausgeber Liga der Arabischen Staaten, Bonn 1975) und Palästina und der Zionismus (Herausgeber Solidaritätskomitee der DDR, Berlin 1983) machen sich nicht einmal die Mühe, ihre gemeinsame Herkunft zu verschleiern.  
Bis heute ist es ein Tabu, vom Einfluss der DDR-Wissenschaft auf die Westlinke zu sprechen. Man habe, so der zumeist empörte Ausruf, bereits vor 1989 überzeugend widerlegt, dass die Einflussnahme der DDR auf die Westlinke, insbesondere die des Ministeriums für Staatssicherheit nur kranken Hirnen ewig-gestriger Antikommunisten entsprungen sein könne.
[Wolfgang Wippermann, Heilige Hetzjagd. Eine Ideologiegeschichte des Antikommunismus, Berlin 2012]
Und tatsächlich gibt es nur wenige Versuche, diese Einflussnahme substanziell zu belegen.
Ganz sicher in der West-Friedensbewegung in Gestalt von linken Vorfeldorganisationen bis zum MfS-Konstrukt der „Generale für den Frieden“, bei der Weitergabe von Stasi-erobertem Material bis hin zum Text des SDI-Vertrages der Bundesrepublik mit den USA.
[Siehe Maruhn/Wilke; De verführte Friedensbewegung. Der Einfluss des Ostens auf die Nachrüstungsdebatte, München 2002]
Und eben bei der Einwanderung des Israel-Hasses in die linken Bewegungen im Westen, ließen sich evtl. die erfolgreichen Einflussnahmen belegen. Es wäre zu wünschen, wenn diese Belege künftig verstärkt gesucht würden.

Sicher ist, die Publikationen der DDR-Orientforschung mit ihren antisemitischen Hasstiraden gegen Israel sind 1989 nicht plötzlich abgetaucht, verschwunden. Im Gegenteil.   
Martin Robbe (Jg. 1932) war in der DDR zuletzt stellv. Leiter des Instituts für Allgemeine Geschichte an der Akademie der Wissenschaften und Autor zahlreicher Bücher zu Israel.
Die Bücher waren gefüllt mit Hass auf Israel und geprägt von einer wendigen Rechtsfertigung des Terrors der PLO.  
Bis heute stehen die Bücher von Martin Robbe in Universitätsbibliotheken in der Bundesrepublik (Ost und West).

Bücher Autor: Martin Robbe, CAU Universitätsbibliothek Kiel 2020


Und so kann der Israel-Hass der DDR historisch nicht hinreichend gebildeten junge Studenten im heutigen Westen erreichen.
Man stelle sich junge Studenten vor, in deren Abiturausbildung weder die DDR noch die Sowjetunion oder gar die Geschichte Israels wesentlich vorkamen. Man stelle sich vor, diese Studenten lesen Martin Robbes Buch „Scheidewege in Nahost“ (Militärverlag der DDR, 1982): [Universitätsbibliothek Tübingen Signatur: 28 A 2025; Universitätsbibliothek Kiel Ak 8674+002]

 Israel übernahm erneut die Funktion, „Speerspitze“ des Imperialismus in Nahost zu sein. Die Israelis waren darangegangen – das ordnete sich ihrer aggressiven Politik ein, aus dem Oberlauf des Jordan, vor seinem Eintritt in jordanisches Gebiet, Wasser zu entnehmen und nach Südisrael zu leiten.

Und dann folgen seitenweise Erklärungen, die Israel im Lichte der DDR-Erzählung darstellen, als das Böse, die arabischen Nachbarn als das Gute im antiimperialistischen Kampf.  
Im ganzen Buch gibt es kein Wort zur deutschen  Judenvernichtung oder zum Holocaust als Urgrund der Gründung des Staates Israel, statt dessen DDR-Faschismus-Sprech in Reinkultur:

Die Faschisten hatten mit dem zweiten Weltkrieg die bis dahin größte Katastrophe für die Menschheit heraufbeschworen. Die Statistiken bestätigen dies: 50 Millionen Tote hatte der Krieg gefordert, darunter 20 Millionen Sowjetbürger. Die Juden hatten eine erschütternde Bilanz zu ziehen. Ungefähr 6 Millionen von ihnen, etwa ein Drittel aller Juden in der Welt, hatten den Tod gefunden.  (S. 114)

Von „Imperialismus“ hatten diese Studenten in den üblichen Vorlesungen zu Postkolonialen Theorien bereits gehört.  Dort auch von den Ideen eines der Begründer Postkolonialer Theorien, dem (zeitweiligen) Funktionär palästinensischer Terrororganisationen, Edward W. Said (1935-2003).  Dort hörten sie evtl. auch vom angeblichen Kolonialstaat Israel.
[Siehe kritisch dazu Meron Mendel/Tom David Uhlig, Challenging Postcolonial : antisemitismuskritische Perspektiven auf postkoloniale Theorie, 2017]

Und diese Studenten hatten mutmaßlich nie zuvor von Lenins Schrift
(1916) Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus gehört, noch hatte sie von der Kanonisierung Leninscher Schriften zu kolonialen Fragen in der DDR erfahren.

Dabei ist genau diese Kanonisierung Lenins das theoretische Rüstzeug des DDR-Autors Martin Robbe zur Beurteilung Israels. Indem er Lenin zitiert, dass „die gegenseitigen Beziehungen der Völker“ nur als „Kampf einer kleinen Gruppe imperialistischer Nationen gegen die Sowjetbewegungen“ (Lenin, 1920) zu verstehen ist.  Lenin wörtlich im Text von Robbe: „Wenn wir das außeracht lassen, dann werden außerstande sein, auch nur eine einzige nationale oder koloniale Frage richtig zu stellen, selbst wenn es sich um den entlegensten Winkel der Welt handelt.“ (Robbe, 1982, S. 161; zitiert aus Lenin Werke, Bd. 31, S. 229)
Für die DDR-Orientwissenschaft der 1980er Jahre war Lenin nicht irgendeine Position dieses oder jenes Autors. Lenin gehörte (nach damaligem Wortsinn) zu den Klassikern des Marxismus-Leninismus;  jeder Satz Lenins war somit wissenschaftliche Wahrheit. Im Idealfall wurde die Wahrheit des Klassikers mit Beispielen aus den aktuellen Begebenheiten belegt. Das brachte Beifall innerhalb der Glaubensgemeinde ein.
Und so folgerte Martin Robbe nur wenige Zeilen später:
„Der Befreiungskampf der Araber, der die Unterstützung anderer revolutionärer Kräfte, vor allem der sozialistischen Staaten hatte und hat, wurde in der zionistischen Politik, hinter der imperialistische Mächte standen und stehen, mit dem Versuch konfrontiert, die alten Verhältnisse der sozialen und nationalen Ausbeutung und Unterdrückung aufrechtzuerhalten.“

Von all diesen Strukturen von DDR-Wissenschaft, davon ahnt unser angenommener Student nichts. Sie/er nimmt es als normalen Text.
Damit könnte die DDR-Idee Martin Robbes vom angeblich „antikolonialen Befreiungskampf der Palästinenser“, Jahrzehnte nach 1989, wieder in Hirne und Herzen dieser Studierenden einsickern.  Für ideologischen Nachschub, für die immer wieder aufgewärmten antisemitischen Klischees, wäre wieder einmal gesorgt.  

Auch wenn der von Chesnoff/Klein/Littell beschriebene Alptraum einer arabischen Eroberung Tel Avivs im Sommer 1967 nur im Buch stattgefunden hatte. 

Allenby St Ecke King George St Bild: Michael Hänel, November 2019

Alexander Solschenizyn und sein Archipel Gulag, SWR2, 6. Dezember 2018

28 Minuten Radio für das lange Leben des Alexander Solschenizyn

Audio (ARD mediathek) hier. Zusätzlich die von den Online-Kollegen gestaltete Seite zur Sendung – siehe  auch SWR2 Wissen – Alexander Solschenizyn und sein „Archipel Gulag“ hier als pdf.

Unbeachtet bleiben das Spätwerk Solschenizyns mit seiner weitreichenden Liechtensteiner Rede (1993) und seine fortwährende Fehlinterpretation jüdischen Lebens und jüdisch-sowjetischer Geschichte, die einer eigenen Sendung bedürfen.
Sonja Margolina 2002, Sabine Adler 2003 und kürzlich die Bamberger Historikerin Elisa Kriza sprechen für mich zurecht von Antisemitismus im Werk Solschenizyns.

Solschenizyn SWR

1918 (1974) 2018
Zum 100. Geburtstag von Alexander Solschenizyn

Wir lassen, schlage ich vor, so Martin Walser im SPIEGEL (07/1974 S. 120), Tafeln herstellen, die das Bild Solschenizyns zeigen, und stellen sie auf möglichst vielen öffentlichen Plätzen auf…Des weiteren schlage ich vor, dass jeder, der vorbeigeht, den Hut bzw. die Kopfbedeckung abnimmt oder doch wenigstens berührt.

Mit anderen Worten: er, der erklärt-linke Schriftsteller lasse sich auch von einem Günter Grass nicht nötigen, Solschenizyn zu würdigen. Grass hatte, Tage zuvor im Februar 1974 bei kommunistisch orientierten Kollegen bemängelt, dass von denen „kein Wort für Solschenizyn“ komme.

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Der im Westen bis heute, wohl nicht zuletzt aufgrund seiner linken Verortung, verehrte Schriftsteller Walser hat sich, soweit bekannt, zu Walser und Solschenizyn auch nach 1989 nicht mehr geäußert. [siehe ausführlich zu Grass und Solschenizyn:  Martin Walser. Leben und Schreiben. Tagebücher 1974-1978, Rowohlt, 2012, S. 12ff]
Schon unappetitlich 1974. Bedenkt man allein, dass Walser 1945 Soldat der deutschen Wehrmacht war. Solschenizyn hingegen hatte drei Jahre lang, fast ununterbrochen, zuletzt als Artillerieoffizier in der 48. Armee/2. Belorussische Front im Feuerhagel der deutschen Wehrmacht kämpfend zum Sieg über die nationalsozialistischen Machthaber und ihre Invasionsarmee beigetragen.

Bis zu seiner Verhaftung durch das NKWD am 8. Februar 1945, verurteilt wegen Kritik an Stalin am 7. Juli 1945 zu acht Jahren Lagerhaft.
Walser dagegen machte 1946 in Lindau am Bodensee Abitur, arbeitete für ARD-Sender im Südwesten, promovierte 1951 in Tübingen über Franz Kafka und entdeckte recht bald seine anhaltende Vorliebe für kommunistische Ideen.

Der FAZ-Journalist Rainer Hank (Links, wo das Herz schlägt, S. 45f) schreibt 2015 in der Rückschau auf seine eigenen linken Verwindungen: Natürlich ignoriert auch Walser die Erfahrungen von Solschenizyn. Mehr noch, er macht sich darüber lustig, dass ein Teil der deutschen Öffentlichkeit von den Beschreibungen des Gulag schockiert wurde und nicht nur Heinrich Böll, der Solschenizyn Asyl bot, sondern auch Günter Grass sich solidarisch zeigten.

Es ist nicht überliefert, wie viele Sektkorken im Feiern dieser stramme Haltung Walsers gegen Solschenizyn in westdeutschen, linken Studentengruppen flogen. Die westlich-linken Reaktionen auf Solschenizyn unterschieden sich nur wenig von den ideologischen Abwertungen, die in Moskau oder Ostberlin verfasst worden waren. (Rote Blätter – Organ des Marxistischen Studentenbundes Spartakus, Nr. 16, Februar 1974, Solschenizyns stärkstes Stück: Die menschenfeindlichen Lügen im ‚Archipel GULAG‘)

Am 13. Februar 1974 wurde Solschenizyn aus der Sowjetunion ausgebürgert. Zu deutlich seine Kritik am sozialistischen Lagersystem.  Zu kompromisslos sein Kampf gegen das kommunistische Narrativ: wir sind die Progressiven. Wir haben die Ausbeutung des Menschen beseitigt. Wir bauen die lichte Zukunft des Sozialismus auf. Also sagen wir, was gute Literatur ist und was unsere Bevölkerung lesen darf, wofür sie reif ist zu lesen.
Jeder, auch der noch so talentierte Schriftsteller, der sich gegen unser Zukunftsprojekt wendet, könne nur geisteskrank, vom Westen gekauft oder gar Agent des Westens sein.
Das galt auch für das DDR-Kulturministerium und sein Fenster zur Welt, den Ostberliner Verlag Volk und Welt. Der hatte es folgerichtig abgelehnt, die Novelle „Ein Tag des Iwan Denisowitsch / Один день Ивана Денисовича (später unter dem Titel „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“) zu drucken.
Die Lektorin schrieb in einem Gutachten 1962: Werden unsere Leser stark genug sein, um die geschilderten Abweichungen von der sozialistischen Gesetzlichkeit unter Stalin und die Konsequenzen daraus in der Gegenwart richtig zu verstehen?  Man solle später eine Übersetzung/Veröffentlichung prüfen. Parteichef Ulbricht unterband eine Veröffentlichung.   Der 2018 verstorbene DDR-Slawist und Übersetzer Fritz Mierau schämte sich für diesen un-kulturellen Fehler in einem verschollenen Artikel im Jahr 1991.
Die DDR-Kulturpolitik setzte bewußt auf die Verdammung Solschenizyns, ungebrochen auch während der Zeit der sowjetischen Perestroika.
Der Unterhaltungsautor Harry Thürk durfte Der Gaukler schreiben. Am Rande Moskaus, in einer komfortablen Datscha, sitzt Ignat Isaakowitsch Wetrow. Er selbst bezeichnet sich als Wahrheitsverkünder. Zeitungen westlicher Länder nennen ihn Dichter.  Das Buch, in der DDR in hoher Auflage ab 1978 gedruckt, beschreibt Alexander Solschenizyn als CIA-Agenten. Der antisemitische Zungenschlag (Isaakowitsch) war Kalkül.

Dabei bleibt es fraglich, ob sich an den einst gemeißelten Positionen pro/contra Solschenizyn über die dann folgenden 40 Jahre wirklich etwas verändert hat.
Bereits 1999 schrieb Ulrike Ackermann (später Sündenfall der Intellektuellen, 2000)
Das Erscheinen von Alexander Solschenizyns ‘Archipel Gulag’, sein Werk über die sowjetischen Lager, löste bei deutschen Intellektuellen kaum einen öffentlich wahrnehmbaren Schock aus, noch sorgte es für ein Erdbeben in den bestehenden politisch-intellektuellen ‘Lagern’. Anstelle eines Bruchs waltete hierzulande eher eine Kontinuität, deren traditionsreiche Denkfiguren wie der ‘Anti-Antikommunismus’ bestimmten weiterhin den Diskurs. Selbst der reale Zusammenbruch des Kommunismus 1989 und der Fall der Mauer zeitigten nur zögerliche Folgen im linksliberalen Milieu; die Stabilität der deutschen Gesinnungslager blieb – weitgehend – gewahrt.

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Dabei wäre ein Widerstand gegen Solschenizyn im Westen Deutschlands verstehbar, der sich gegen einen einfachen Vergleich der Gulag-Schilderungen mit den deutschen Verbrechenslagern verwehrte. Immerhin war seit den 1960er Jahren mühsam die Beschreibung des deutschen Angriffskrieges und der deutschen Vernichtungslager ins öffentlichen Narrativ eingebracht worden.  Während der offizielle Osten beim „antifaschistischen“ Narrativ von 1936 stehen blieb,  auf die Erforschung der Vernichtungslager, der Vernichtung jüdischen Lebens in Osteuropa keinen Wert legte. Und auch im Westen wurde nur zaghaft selbst im Historikerstreit nach 1986 eine gewisse Dimension des Verstehens der sowjetischen Lager erreicht. Jorge Sempruns Forderung, vorgetragen bei den Römerberggesprächen 1986, verhallte praktisch ungehört: (Gegen den Versuch, Vergangenheit zu verbiegen, 1987, S. 49)
Wer aber vom Stalinismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.

Und 2018? Um heute Solschenizyn zu begegnen, muss man weite Wege gehen, nach den wenigen Seminaren an literaturwissenschaftlichen oder slawistischen Instituten suchen. Er ist ein Vergessener.  Denn was lernen deutsche Abiturienten über Solschenizyn, das sowjetische Lagersystem? Nichts. Das hat der Geschichtslehrer Christian Könne in einer Studie 2017 herausgefunden.
Dabei wäre gerade im Osten eine nachholende Beschäftigung mit Solschenizyn aufgegeben.  Nicht zuletzt „Stunde-Null-Linke“,  die seit 1989 fortwährend erklären, mit der DDR oder dem „realen Sozialismus“ rein gar nichts zu tun zu haben.  Gleichzeitig aber, bewusst oder in Unkenntnis des Stalinismus, an den Mythen marxistischer Geschichtsschreibung als Mitgliedskarte der gläubigen Legitimationsgemeinde festhalten.  Dabei neuerdings allzu gern Putin-offizielle Geschichtspolitik übernehmend.

In Russland selbst wird 2018 hochoffiziell der 100. Geburtstag des Dichters gefeiert.  Wie man hört mit einem neuen Museum in Moskau und ehrenden Veranstaltungen soll Solschenizyn endlich dem neuen russischen Nationalismus einverleibt werden.
Doch so einfach wollen das nicht alle im Lande mittragen. In Rostow am Don, wo Solschenizyn seine Kindheit und Studentenzeit verbracht hatte, wollen die heutigen Studenten und eingefleischte Linke noch immer kein Denkmal für den Verräter Solschenizyn.

*Weitere Sendungen zu Solschenizyn im ARD-Radioprogramm:
Spannend finde ich, dass die verschiedenen Autoren ganz verschiedene Sichtweisen zeigen und auch die z. T. gleichen Textstellen in verschiedenen Übersetzungen und Interpretationen vorzulegen

Volksfeind und Heiliger – Solschenizyns Rückkehr nach Russland (Mario Bandi)
WDR3,  8. Dezember 2018 (auch DLF/Deutschlandfunk Kultur und RBB am 7. Dezember 2018)

Kulturradio RBB, 1. Dezember 2018 (Dunja Welke)

Am Morgen vorgelesen. Die Sonnabend-Story: Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch
NDR Kultur,  8. Dezember 2018

Zeltlager gegen Atomkraft (Video/SWR) und neue Übersetzung (Textinitiative Fukushima)

12. 3. 2012 SWR2 (8:30 – 9:00)  Atomkatastrophe von Fukushima – Japans Energiewende (von Michael Hänel und Susanne Steffen):

Seit September sitzen sie hier, 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche. Ihr Protest richtet sich gegen das Wirtschaftsministerium gleich nebenan. Darin arbeiten unter anderem die staatliche Verwaltung der Atomindustrie und die staatliche Atomaufsicht, soweit man letztere tatsächlich so nennen kann. Denn ein Geflecht von Industrie und Politik hatte bisher jede wirklich Kontrolle der Betreiber japanischer Kernkraftwerke verhindert.
„Hört auf die Stimmen der Mütter und Kinder der Präfektur Fukushima!“ steht groß auf einem Plakat vor dem Zelt, gut sichtbar auch für die Ministeriumsmitarbeiter in ihrem Hochhaus. Taro Fuchigami ist von Anfang an dabei.
weiter dazu als Video (planet schule Film)

und bei nano / 3sat (9. 3. 2012)

Originaltexte der Zeltinitiative gibt es als aktuelle Übersetzung  (Dorothea Mladenova / Steffi Richter, Leipzig) der Textinitiative Fukushima.